Workshop Literarisches Übersetzen

Yvonne Herold und Ulrike Walter

 

 

Der Inhalt dieses Workshops paßte nicht unmittelbar zu den Themen einer StuTS. Aber schon aus dem einfachen Grund, daß die Studienrichtungen Allgemeine Sprachwissenschaft und Übersetzen/Dolmetschen an der Uni Leipzig (bislang) gemeinsam das Institut für Sprach- und Übersetzungswissenschaft bilden, bot es sich an, auf der Leipziger StuTS übersetzungswissenschaftliche Probleme wenigstens kurz anzureißen.

Zwar wird an der Uni Leipzig Übersetzen von Literatur nicht gelehrt und die Übersetzungswissenschaft beschäftigt sich auch nicht vorrangig mit der Übersetzung literarischer Texte. Etliche übersetzungswissenschaftliche Theorien lassen sich jedoch auch auf dieses Gebiet übertragen. Außerdem war anzunehmen, daß die Teilnehmer des Workshops mit der Übersetzung von Literatur häufiger in Berührung kommen als mit der Übersetzung beispielsweise von Verträgen oder Handbüchern.

Anhand von zwei Beispielen - einem lyrischen Text und einem Prosatext - konnten die Teilnehmer selbst "testen", was beim Übersetzen von Literatur im Kopf abläuft, welche Fragen sich stellen und was für Entscheidungen getroffen werden müssen.

Zum einen erhielten die Teilnehmer die englische (Original-)Fassung des Gedichts "Humpty Dumpty" aus "Alice in Wonderland" von Lewis Carroll. Sie sollten zunächst selbst einen Übersetzungsvorschlag erarbeiten. Anschließend erhielten sie zwei verschiedene publizierte deutsche Übersetzungen des Gedichts. Diese und die eigenen Vorschläge wurden diskutiert.

Bei diesem Kinderreim mit klarem Reimschema und Rhythmus stellt sich (wie sehr oft bei Lyrikübersetzungen) insbesondere das Problem der gleichberechtigten Übertragung von Form und Inhalt.

Bei allen diskutierten Übersetzungsvarianten zeigte sich, daß der Übersetzer/die Übersetzerin sich entweder für eine möglichst genaue Wiedergabe des Inhalts entschieden hatte und dafür Abstriche an der Form (dem Reimschema und/oder Rhythmus) gemacht hatte oder aber die Form übernommen hatte und dafür den Inhalt zum Teil beträchtlich variiert hatte. Unter den Teilnehmern herrschte keine Einstimmigkeit, welche Variante vorzuziehen wäre.

Zum anderen erhielten die Teilnehmer einen Ausschnitt aus dem englischen Original von "The Color Purple" von Alice Walker sowie eine veröffentlichte deutsche Übersetzung dieses Textes. Anhand des Beispiels wurde diskutiert, welche Funktionen bestimmte sprachliche Mittel haben können. In diesem Fall ging es vor allem um die Frage, ob und wie das "Black English", das die Hauptperson des Romans spricht und schreibt, ins Deutsche übertragen werden kann. Die Teilnehmer waren sich einig darüber, daß die Sprache der Hauptperson hier von großer Bedeutung ist, da sie ohne weitere Beschreibung Assoziationen über ihren sozialen und kulturellen Hintergrund hervorruft.

Es gab jedoch verschiedenste Vorschläge, wie diese Hintergründe auch dem deutschen Leser vermittelt werden können. Die vorgeschlagenen Lösungen reichten von einem entsprechenden Vorwort des Übersetzers über eine völlig "normale" deutsche Übersetzung (die voraussetzt, daß der deutsche Leser das Hintergrundwissen aus anderen Faktoren gewinnt) bis zu einer agrammatischen deutschen Version (falsche Deklination, Weglassen oder Abkürzen von Wortendungen u.a.). Im Verlauf der Diskussion zeigte sich, daß sich die Teilnehmer nicht auf eine "beste" oder "korrekteste" Möglichkeit einigen konnten.

Für beide Beispiele kann die funktionale Übersetzungstheorie (Skopostheorie) herangezogen werden. Indem vor dem Übersetzen der Zweck (der Skopos) der Übersetzung definiert wird, ist es möglich, eine Funktionshierarchie der sprachlichen Mittel zu erarbeiten. Mit anderen Worten: Man muß sich vor dem Übersetzen bewußt machen, daß es nicht möglich ist, eine völlig identische zielsprachliche Version zu erstellen und daher entscheiden muß, welche Prioritäten man setzen möchte/muß. Diese können für den einzelnen Übersetzer oder Verlag je verschieden liegen. Das erklärt u.a. das gleichberechtigte Nebeneinander-Existieren divergierender Übersetzung in dieselbe Sprache. Erst die Vorentscheidung - Was soll erhalten werden? Was kann erhalten werden? Was kann nicht erhalten werden? - ermöglicht ein konsistentes Vorgehen bei der Lösung einzelner Fragen beim Übersetzen.

Manche Teilnehmer hatten sich bereits privat oder an ihren Unis mit ähnlichen Fragen auseinandergesetzt, meist jedoch, ohne von der Übersetzungswissenschaft als solcher Kenntnis zu nehmen. Für andere Teilnehmer bot der Workshop zum ersten Mal Gelegenheit, sich näher mit theoretischen Fragen des Übersetzens zu beschäftigen. Insofern war der Workshop für die meisten Teilnehmer ein "Fenster zu einem anderen Wissenschaftsgebiet".