”Castor durchgeprügelt” oder ”friedlicher Protest”? –

Sprache erschafft ein Weltbild

 

Tobias Pischel, Osnabrück

tpischel@rz.uni-osnabrueck.de

 

Als ich meinem Vater von dem Projekt für die STUTS in Leipzig erzählte, sah er sich die Kopien meiner Texte aus Tageszeitungen an, dachte einen Moment lang nach und fragte dann: "Und wie war es wirklich?" Diese Frage versetzt uns schon mitten in das Thema dieser Arbeit: gibt es eine objektive Realität, oder wird das, was wir Realität nennen, erst durch unsere Sprache erschaffen?

Bevor wir gemeinsam versuchen, diesem Problem genauer auf den Grund zu kommen, sollten wir einen ersten Blick auf die Texte werfen und kurz die diskurstheoretischen Aspekte diskutieren.

Am 21. März 1998, einen Tag nachdem wieder ein Transport mit hochradioaktivem Atommüll durch Deutschland gefahren war, habe ich Artikel aus fünf Tageszeitungen zu diesem Thema gesammelt: Neues Deutschland, Neue Osnabrücker Zeitung, Süddeutsche Zeitung, TAZ und Die Welt. Sie titelten wie folgt: "Staat zeigt Härte: Castor am Ziel" (ND), "Schwere Krawalle nach Castor-Ankunft" (NOZ), "Wasserwerfer bahnen Castor-Transport den Weg" (SZ), "Castor durchgeprügelt" (TAZ), "Polizei macht Weg für Castor frei" (Welt). Obwohl alle Schlagzeilen andeuten, daß der Transport nicht ohne Konflikte an sein Ziel gelangt ist, sind schon hier deutliche Unterschiede in der Gewichtung erkennbar. Drei Zeitungen machen den Staat oder sein ausführendes Organ zum Thema ihrer Schlagzeilen (Staat, Wasserwerfer, Polizei), einmal wird der Konflikt thematisiert und einmal das Objekt, der Castor. Interessanterweise werden wir diese thematische Dreiteilung zwischen Staatsgewalt, Objekt und Widerstand auch in den Texten wiederfinden.

Aber wie kann der Ansatz, der bisher bestenfalls intuitiv war, auf theoretisch und methodisch solide Grundlagen gestellt werden? Wir brauchen dazu zwei Ansatzpunkte, von denen der eine die genaue Analyse der Sprache ist und der andere die diskursiven, also auch die politischen und ideologischen Kontexte, beleuchtet. Häufig ist es allerdings der Fall, daß entweder das eine, eine linguistische Analyse, oder das andere, eine soziologische Untersuchung, gemacht wird, ohne die beiden Ansätze zu verbinden, als wäre es möglich, Sprache ohne sozialen und historischen Kontext oder politische Zusammenhänge ohne deren sprachliche Darstellung zu untersuchen. Beides ist meiner Ansicht nach nicht möglich, denn Sprache als eine Organisation von Zeichen und Ideologie sind zwei Seiten derselben Münze, wie Voloschinov schon 1928 erkannte. Daß er dabei übrigens trotz marxistischer Grundeinstellung nicht die Engelssche Definition von Ideologie als falsches Bewußtsein im Sinne hatte, ist bemerkenswert. Wenn wir Ideologie als bestimmendes Verhältnis von sozialen und materiellen Bedingungen und als abstrakte Verhältnisse, die durch Wissen und Wissenschaft konstruiert werden, verstehen, müssen wir auch einsehen, daß Sprache im Gebrauch immer einen bestimmten Standpunkt repräsentiert und somit auch ideologisch geprägt ist.

Dabei spielen diskursive Einschränkungen, wie sie Michel Foucault beschrieben hat, entscheidende Rollen, denn wir alle wissen, daß es für jeden Ort und jeden Zeitpunkt Beschränkungen gibt für das, was geäußert werden kann und was nicht. Wie für literarische oder wissenschaftliche Diskurse so existieren auch für journalistische Einschränkungen dahingehend, was in bestimmten Kontexten als akzeptabel gilt und was nicht. So werden wir beispielsweise auf den Titelseiten unserer ausgewählten Tageszeitungen keinen Tagebucheintrag des fiktiven Antiatomaktivisten Jockl aus Hasbergen-Gaste zum Thema "Die Castordemo aus meiner Sicht" finden, sondern eher Stimmen von in diesem Zusammenhang prominenten Personen oder auch abstrakten Organisationen (die Bundesregierung, ein Polizeisprecher, Landtagsabgeordnete der Grünen). Das ist eine Frage von Konventionen, also von Diskurs im Foucaultschen Sinne und den damit verbundenen Restriktionen, wobei diese Konventionen durchaus Änderungen unterworfen sein können, obwohl das Foucaultsche Paradigma nicht allzu viel Raum für Widerstand und Veränderung läßt.

Genau diese Zusammenhänge von Text und Diskurs erkennt Norman Fairclough und integriert sie in sein Modell, in dem er Text als diskursive Praxis und diese wiederum als soziale Praxis sieht. Er verbindet Diskursanalyse im Sinne Foucaults – mit einigen Modifikationen – mit kritischer linguistischer Textanalyse im Sinne der britischen Schule der Critical Discourse Analysis zu einem Konzept, das er TODA – text-orientierte Diskursanalyse – nennt (Fairclough 1992). Dabei gesteht er ein, daß es für niemanden, auch nicht für Diskursanalytiker, einen ideologiefreien Gebrauch von Sprache gibt, also keinen archimedischen Punkt, von dem man das Geschehen von außerhalb betrachten bzw. analysieren könnte. Dieses Eingeständnis und der Zusatz, daß sein Modell auch gar nicht den Anspruch erhebt, wertfrei zu sein, sondern sich immer auf die Seite von sozial schwächergestellten Gruppen oder Individuen schlägt, mag zwar in bestimmten akademischen Kreisen, in denen angeblich wertfreie Forschung als die höchste Tugend gilt, nicht wohl gelitten sein, ist aber in einer Zeit, in der Manipulation durch Medien, also auch durch Texte jeder Art allerorten massiv ausgeübt wird, immens wichtig. Faircloughs Textorientierung lehnt sich dabei stark an Michael Hallidays Ansatz, Sprache als soziales und funktionales Phänomen zu sehen, und die darauf aufbauende systemisch funktionale Grammatik Hallidays an, die im Gegensatz zu strukturalistischen Ansätzen nicht von Idealfällen, sondern von Systemen von Wahlmöglichkeiten für den Sprecher ausgeht, die als Potentiale zum Generieren von Bedeutung anzusehen sind, wobei jede tatsächlich getroffene Wahl auch als bedeutungsvoll anzusehen ist (Halliday 1978, 1994). Halliday läßt in seiner Theorie kaum Raum für freie Variation; wenn davon die Rede ist, sieht er dies eher als Indiz für eine mangelnde Feinschrittigkeit des gewählten Analyserasters an. Er ist der Ansicht, daß Sprache die Realität zweifach repräsentiert: referentiell durch Worte und Strukturen und gleichzeitig metaphorisch durch ihre innere und äußere Form. Während also Sprache zu einer Metapher der Realität wird, wird die Realität auch eine Metapher für Sprache, es herrscht also ein dialogisches Verhältnis zwischen Sprache und Realität (1978:191). Insgesamt sagt Halliday selbst,

der Ansatz tendiert eher zum Angewandten als zum Reinen, zum Rhetorischen als zum Logischen, zum Eigentlichen als zum Idealen, zum Funktionalen als zum Formalen . . . . Die Betonung liegt auf Textanalyse als Aktivität, auf einer Theorie von Sprache als ein Mittel um Dinge zu erledigen. (Halliday 1994: xxvii, meine Übersetzung)

Und genau diese Betonung des funktionalen Aspekts von Sprache macht Hallidays Modell so attraktiv für unsere Zwecke. Es ist unwichtig, ob bestimmte Ausdrücke des zu analysierenden Textes eventuell ungrammatisch sind, die entscheidende Frage ist, welche Funktionen sie erfüllen, welche Effekte dabei auftreten, und wie diese Effekte zu erklären und zu interpretieren sind.

Halliday identifiziert drei sprachlichen Metafunktionen, die gleichzeitig aber doch unabhängig voneinander im semantischen System arbeiten. Die textuale Funktion betrifft die Relevanz des Kontextes und die Organisation des Gesagten/Geschriebenen als Text. Die interpersonale Funktion betrifft den Text als Austausch und codiert das Verhältnis von Sprecher und Hörer. Die ideationale Funktion schließlich betrifft die Repräsentation von Wirklichkeit. Im Folgenden möchte ich auf jede Funktion kurz eingehen und an Beispielen erläutern, wobei die ideationale Funktion den Schwerpunkt bilden wird.

Die Textfunktion findet sich in der Thema-Rhema Struktur eines Satzes wieder. Das Thema eines Satzes steht üblicherweise an dessen Beginn und drückt aus, wovon der Satz handelt. Dadurch, daß die deutsche Sprache wesentlich stärker flektiert ist als beispielsweise die englische, ist sie auch erheblich flexibler bei der Satzstellung und damit bei der Wahl eines Themas. Nehmen wir folgenden Satz aus der Welt: "Der bislang größte Atommülltransport ist am Freitag zunächst ohne schwere Zusammenstöße zwischen Atomkraftgegnern und der Polizei quer durch Deutschland gerollt." Thema ist "der bislang größte Atommülltransport", aber theoretisch wäre es möglich gewesen, "quer durch Deutschland", "am Freitag" oder auch "zunächst ohne schwere Zusammenstöße" zum Satzthema zu machen. Im Rahmen unserer Theorie können wir also davon ausgehen, daß dem Verfasser des Artikels durchaus mehrere Möglichkeiten zur Wahl gestanden haben und er sich für diese eine Variante entschieden hat. Während natürlich innerhalb eines Textes noch weitere Beschränkungen gelten, um möglichst die gewünschte Kohäsion zu erreichen, wären besonders hier am Textbeginn viele Alternativen möglich gewesen. Ein ganz anderes Thema hat der erste Satz im Artikel der Neuen Osnabrücker Zeitung: "Begleitet von Demonstrationen, Blockadeversuchen und anderen Protestaktionen, hat der Zug mit 60 Tonnen hochradioaktiven Brennstäben aus süddeutschen Kernkraftwerken am Freitagabend sein Ziel im nordrhein-westfälischen Ahaus erreicht." Aufschlußreich auch das Neue Deutschland: "Ein Großaufgebot der Polizei hat am Freitag den Castor-Behältern mit 60 Tonnen hochradioaktivem Atommüll den Weg gebahnt." Wir sehen hier wieder die schon oben angesprochene Dreiteilung: Die Welt macht das Objekt zum Thema, die NOZ den Widerstand und das Neue Deutschland die Staatsgewalt. Sowohl die NOZ wie auch das ND beziehen sich übrigens zumindest teilweise auf dieselben Nachrichtenagenturen.

Die interpersonale Funktion bezieht sich auf die Rolle des Sprechers und komplementär auf die des Rezipienten. Aufgrund der Komplexität dieses Feldes werde ich mich auf einige Aspekte beschränken. Obwohl sich die englische Terminologie hier sehr schlecht mit der deutschen deckt, können wir hier, wenn auch etwas vereinfacht, von Modalität, also der Einstellung des Sprechers zum Gesagten, sprechen. Wir unterscheiden vier primäre Funktionen: Angebot, Befehl, Frage und Aussage, die mit vier normalerweise erwarteten Antworten korrelieren: Annahme des Angebots, Ausführung des Befehls, Beantwortung der Frage und Akzeptieren der Aussage. Im Fall des Zeitungsartikels finden wir in der Regel Aussagen, die den Rezipienten das Geschriebene meist nur akzeptieren lassen; andere Reaktionen sind natürlich denkbar, können aber den Verfasser nur sehr eingeschränkt treffen. Ich kann die Zeitung hinlegen oder abbestellen, und ich kann einen Leserbrief schreiben, kaum etwas davon wird aber wirklich als Interaktion verstanden werden können. Diese vier Primärfunktionen können auf verschiedene Arten dargestellt werden, z.B. durch syntaktische Inversion, Modaladverbien (möglicherweise, wahrscheinlich, vielleicht), Modalitätsverben (scheinen, drohen, versprechen) oder Modus (Indikativ, Konjunktiv, Imperativ), die aber nur sehr begrenzt in den Artikeln Verwendung finden.

Einzig im Artikel der TAZ finden sich Modalverben. Dadurch, daß Autokonvois vor Ahaus gestoppt wurden und Treckern die Luft abgelassen wurde, gelangten einige der Atomkraftgegner nicht mehr nach Ahaus, "[a]ndere mußten einen Teil des Weges zu Fuß zurücklegen". Man könnte argumentieren, daß die Atomkraftgegner nicht gezwungen waren, den Weg zurückzulegen, wie es die Formulierung nahelegt, sie hätten ja auch der Demonstration fernbleiben können. Denn ähnlich könnte man sagen, daß auch die Polizei nicht einfach so "immer wieder von neuem versucht, den Weg des Atommülltransports freizuräumen", sondern per Einsatzbefehl dieses auch tun mußte, wobei diese Verpflichtung allerdings in keinem Artikel erwähnt wird. Oder aber die Polizei mußte es tun, weil sich Atomkraftgegner in den Weg stellten, sonst wäre der Einsatz gar nicht nötig gewesen. Wie dem auch sei, man sieht, daß auch die Benutzung oder eben Nichtnutzung von Modalität zwar oft frei wählbar ist, aber jede Wahl mit starken Bedeutungsänderungen einhergeht.

Die dritte Funktion betrifft Sprache als Repräsentation und wird durch Transitivität ausgedrückt. Anders als in der traditionellen Grammatik, in der Transitivität das Verhalten eines Verbs in Bezug auf seine Akzeptanz von Objekten beschreibt, teilt Hallidays semantisch motiviertes Transitivitätssystem die Erfahrungswelt in sechs Typen von Prozessen und dazugehörige Teilnehmerrollen sowie optionale Umstände ein. Die gröbste Einteilung verläuft zwischen inneren und äußeren, also mentalen (ich denke) und materiellen Prozessen(ich werfe). Dazu kommt ein dritter Typ, den wir für Klassifizierungen und Generalisierungen brauchen: relationale Prozesse (Ich bin ein Berliner). An den Grenzen zwischen diesen dreien gibt es jeweils drei weitere, die die Merkmale der angrenzenden Prozesse teilen: verbale Prozesse zwischen relational und mental (er erzählt); existentielle Prozesse zwischen relational und materiell (es gibt Reis), sowie Verhaltensprozesse zwischen materiell und mental (sie sitzt). Stellt man diese Prozesse in einem Diagramm dar, so ergibt sich logischerweise eine kreisförmige Anordnung. Dieses System ist hinsichtlich der Wahlmöglichkeiten sehr vielseitig, denn erstens sind die Grenzen zwischen den Prozeßtypen fließend, und zweitens gibt es oft mehrere Möglichkeiten, ein und dasselbe "objektiv" beobachtbare Geschehen in einem Prozeß zu verbalisieren. Üblicherweise werden die Prozesse, also das "was passiert", durch Verben kodiert, aber Alternativen dazu gibt es zuhauf.

Zu jedem Prozeß gibt es Teilnehmerrollen, einige davon sind obligatorisch, andere davon optional. Dieses Feld ist sehr komplex und kann hier nur ganz kurz angerissen werden, besonders im Hinblick auf die Kriterien, nach denen man entscheiden kann, welcher Prozeß und damit welche Teilnehmer tatsächlich vorliegen. In Ermangelung einer guten deutschsprachigen Terminologie habe ich mich für das kleinere Übel entschieden und die Originalbezeichnungen beibehalten. Das, was wir als logisches Subjekt kennen, also denjenigen, der im allerweitesten Sinne eine Tat verübt, finden wir in allen Prozessen unter verschiedenen semantischen Bezeichnungen wieder, so z.B. als Actor in materiellen Prozessen, als Senser in mentalen, als Behaver in Verhaltensprozessen und als Existent in existentiellen Prozessen. Manche Prozesse akzeptieren auch zwei Teilnehmer, so beispielsweise materielle ein Goal (Ich fange einen Fisch) oder mentale ein Phänomen (Sie spürt den Schmerz). Weiterhin gibt es indirekte Teilnehmer, wie Beneficiary und Range, die manchmal schwer zu identifizieren sind. Zusätzlich finden wir Umstände, also traditionellerweise adverbiale Bestimmungen. Im neutralen, unmarkierten Fall sind Prozesse als Verben ausgedrückt, Teilnehmer in Nominalgruppen und Umstände in Adverbialgruppen bzw. Präpositionalphrasen zu finden, aber selbstverständlich sind andere Ausdrucksweisen nicht nur möglich sondern auch häufig.

Zur Erläuterung beginnen wir mit einem eher unverdächtigen Satz aus dem ND: "Hier hatte die Polizei bereits während der Nachtstunden etwa 150 Castorgegner in der Umgebung des Zwischenlagers festgenommen." Der Prozeß hatte festgenommen ist materiell und hat zwei Teilnehmer, "die Polizei" als Actor und das Akkusativobjekt "150 Castorgegner" als Goal, Orts- und Zeitangaben sind Umstände und für den Ablauf bzw. das Verständnis des Geschehens nicht obligatorisch. Wesentlich interessanter sind Sätze, in denen Teilnehmer fehlen oder versteckt werden. Das Passiv ist dabei nur eine von mehreren Möglichkeiten, den Actor eines Prozesses nicht zu nennen, wie in "Demonstranten wurden mit nacktem Rücken über den Asphalt geschleift" (TAZ); Nominalisierung ist eine weitere, z.B. "450 Festnahmen in Ahaus" (NOZ) oder auch "Schlagstöcke, Festnahmen, Verletzte, Urteile gegen 10 000 Atomgegner" (ND).

Auch andere Teilnehmer kann man fast nach Belieben weglassen oder hinzufügen. Die Süddeutsche schreibt: "Zur Musik der Band [die Toten Hosen] räumte die Polizei den Bahnübergang." Zwar haben wir hier auch ein im üblichen Sinne transitives Verb, aber das Akkusativobjekt "den Bahnübergang" würde in diesem materiellen Prozeß nicht als Goal und somit direkter Teilnehmer zu verstehen sein, sondern als Range, das worüber sich eine Aktion erstreckt, aber nur indirekter und unabhängig vom Prozeß existierender Teilnehmer ist. Die Demonstranten, die in der Formulierung der Welt "Polizisten trugen Sitzblockierer von einem Bahnübergang weg", immerhin noch Goal sind, werden von der Süddeutschen zugunsten des zu räumenden Objekts ignoriert. Anstatt eines weiteren direkten Teilnehmers, der mit dem Verb räumen auch gar nicht auszudrücken wäre, sondern in eine Präpositionalphrase relegiert werden müßte, kommt die Umstandsbeschreibung "zur Musik der Band" per Präpositionalphrase ins Bild, die selbst ein sehr komprimierter Prozeß ist. Wovon der Bahnübergang geräumt wurde, erscheint in diesem Licht zweitrangig, wichtig scheint zu sein, daß die Staatsgewalt aktiv die Situation unter Kontrolle bringt und das sogar mit scheinbarer Leichtigkeit, denn Satzthema ist der Begleitumstand Musik. Im vorherigen Satz ist auch ausdrücklich von Volksfeststimmung die Rede. Das ND spricht wahrscheinlich von derselben Aktion, stellt sie aber wieder anders dar: "Zu einem der brutalsten Einsätze kam es am Nachmittag auf der Bahnhofstraße." Es ist schwierig, diesen Prozeß zu kategorisieren, am ehesten scheint er unter existentiell zu fallen, da es nur einen Teilnehmer gibt, zu dem es einfach kommt, fast wie zu einem meteorologischen Prozeß wie Regen: es regnet. Hier wird die Polizei nicht ausdrücklich erwähnt, ihr wird auch nichts befohlen und schon gar nicht scheint sie etwas unter Kontrolle zu haben, am wenigsten sich selbst; so wie man eben gegen einen Regenguß machtlos ist, kann auch einer der brutalsten Einsätze nicht abgewendet werden. Gleiches gilt übrigens auch für die oben erwähnten "Urteile gegen 10 000 Atomgegner". Der Sayer eines implizierten verbalen Prozesses fehlt, der Prozeß ist nominalisiert, und das Target ist durch eine Präposition eher zu einem Umstand geworden als zu einem wirklichen Teilnehmer. Ein Urteil muß eben passiv hingenommen werden. Daß zwar 10 000 Menschen demonstriert haben, aber nur zwei zu Bewährungsstrafen verurteilt wurden, wird allerdings erst im letzten Satz des Artikels erwähnt.

Bleiben wir noch eine Weile bei besagtem Bahnübergang, schließlich soll die Räumung auch immerhin vier Stunden gedauert haben. Nach Angaben der Welt war es so: "Die Polizei setzte nach eigenen Angaben vereinzelt Schlagstöcke ein, widersprach aber der Darstellung von Atomgegnern, wonach die Polizisten massiv mit Reizgas und Schlagstöcken gegen Demonstranten vorgegangen seien." Die Polizei ist Actor eines materiellen Prozesses und Sayer in einem verbalen Prozeß; wiederum hat also die Staatsgewalt die Situation unter Kontrolle, geht allerdings gemäßigt vor, gibt leichte Gewalt zu und ercsheint daher (vielleicht auch moralisch) gerechtfertigt, der Darstellung von Atomgegnern zu widersprechen. Man beachte, daß die Atomgegner dabei nicht zum Actor oder Sayer gemacht werden. Übrigens ist das Wort Schlagstock ebenfalls ein nominalisierter Prozeß, die Polizei könnte auch, rein theoretisch natürlich nur, Demonstranten mit Knüppeln schlagen, aber so etwas kommt, wenn man Zeitungsberichten glauben schenken darf, eher in Diktaturen der Dritten Welt vor.

Oder etwa doch nicht? Die TAZ titelte immerhin "Castor durchgeprügelt". Der Actor fehlt hier wegen des Passivs, aber so kann der Eindruck vermieden werden, die Polizei habe alles unter Kontrolle. So auch im letzten Absatz des Artikels. In vier Sätzen/Komplexen ist die Polizei nicht ein einziges mal Actor, sie "hatte" nämlich "nicht alle laut Plan vorgesehenen Einsatzkräfte vor Ort." Dieser Prozeß ist relational, daher auch statisch, und schließlich noch mit negativer Polarität versehen, von Kontrolle also keine Spur. Daher war wohl auch das harschere Vorgehen nötig, je näher der Transport kam, jedoch niemals explizit, denn die Prozesse sind zwar materiell, aber im Passiv, so daß der Actor ausgelassen werden kann. Es ist dabei nicht so, als müßte die Polizei verschwiegen werden, weil sie in einem kritischen Diskurs nicht vorkommen darf; ich würde diese Ausdrucksweise eher dahingehend interpretieren, daß tatsächlich der Eindruck vermieden werden soll, daß der Staat und seine Exekutivorgane in der Lage wären, Demonstrationen wie diese auch nur annähernd zu beherrschen, und wenn, dann auch nur mit erheblicher physischer Gewalt gegen zumeist passive Menschen. Von Flaschen- bzw. Steinwürfen von Seiten der Demonstranten ist einzig im Artikel der NOZ zu lesen.

Es gäbe noch eine ganze Reihe interessanter Tricks zum Thema Transitivität zu finden, aber wir wollen uns noch einen Moment mit einigen anderen Aspekten der Texte befassen. Ganz im Sinne traditioneller Grammatik habe ich mir die Mühe gemacht, die grammatischen Subjekte der finiten Verbformen zu zählen, unabhängig davon, welcher semantischen Kategorie nach Halliday sie jeweils zuzuordnen wären, und versucht, sie nach ihrer Position in dem beschriebenen Konflikt zu sortieren, wobei ich zugegebenermaßen intuitiv vorgegangen bin. Es wurden dabei also die Kategorien Staatsgewalt, Widerstand und Objekt aufgestellt. Interessanterweise wird der Staat mit seinen Organen und deren Hilfsmitteln wie Wasserwerfern und Baufahrzeugen in fast allen Texten am häufigsten als Subjekt genannt, nur in der TAZ findet sich ein zahlenmäßig ausgewogenes Verhältnis zwischen Staat und Widerstand. Am eklatantesten ist der Unterschied in der Welt: 19 mal Staat gegen fünfmal Widerstand, selbst das Objekt, also der Castor, der Zug oder der Transport werden sechsmal als Subjekt eingesetzt. Es ist dabei aber zu bedenken, daß grammatisches Subjekt nicht gleich logisches Subjekt ist und auch nicht mit dem Satzthema gleichzusetzen ist, diese Untersuchung an den Texten steht noch offen, und das Ergebnis böte sich für einen Vergleich mit den genannten Zahlen geradezu an. Ohne syntaktischen und satzübergreifenden Kontext und Analyse der jeweiligen semantischen Funktion können diese Zahlen allerdings durchaus in die Irre führen und sind daher nur mit großer Vorsicht zu genießen.

Einen weiteren Untersuchungsgegenstand stellt das Tempus dar, denn auch hier gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Artikeln. Während Im ND, der NOZ und der Welt zwischen 71 und 76% Imperfekt benutzt wird, verschiebt sich bei der Süddeutschen und der TAZ das Verhältnis zugunsten des Präsens (25% SZ; 19% TAZ, beide nur noch ca. 60% Präsens), allerdings aus völlig unterschiedlichen Gründen. Während die Süddeutsche ihren Bericht zu den unmittelbaren Auseinandersetzungen in Ahaus durch Stellungnahmen verschiedener Politiker und Parteien erweitert hat, die fast ausschließlich im Präsens wiedergegeben werden, stellt die TAZ die Konflikte selbst z.T. im Präsens dar: "Unmittelbar vor dem Ort halten Atomgegner den Castor-Zug immer wieder auf. Polizei setzt Wasserwerfer und Schlagstöcke ein. Demonstranten ketten sich an die Gleise und unterhöhlen die Schienen. Baufahrzeuge reparieren die Strecke." Dadurch wirkt das Geschehen unmittelbarer und direkter, eventuell sogar bedrohlicher. Zusammen mit der Überschrift und dem Bild, das einen Demonstranten wehrlos mit nach hinten gedrehten Armen im festen Griff zweier Polizisten zeigt, wird eine Art Bürgerkriegsatmosphäre erzeugt.

Damit wären wir auch schon bei weiteren Punkten, die bei Faircloughs Diskursanalyse zu berücksichtigen wären, die aber weniger in die linguistische Domäne fallen und ich sie deshalb anstatt einer Zusammenfassung zum Abschluß nur kurz erwähnen will. Hinsichtlich der Texte müßten detailliertere Umstände der Produktion erfaßt werden, also welche Quellen, sprich Nachrichtenagenturmeldungen, wurden herangezogen, wer hat den endgültigen Text verfaßt, wann war Redaktionsschluß, wer besitzt die Zeitung, etc. ? Schließlich sind auch Aspekte, die mit der speziellen Ausgabe zusammenhängen, wichtig, nämlich das Bildmaterial und die Anordnung des Artikels in Relation zu anderen Berichten. Alle Zeitungen bringen Bilder von Polizei und Demonstranten, meist mit der Polizei in einer dominierenden, bzw. kontrollierenden Position, einzig die NOZ zeigt ein sehr kleines Farbfoto von Demonstranten, die ein Portrait Mahatma Gandhis tragen. Wesentlich augenfälliger ist hier ein ebenfalls farbiges Bild neben dem Castor-Artikel, das fast die Artikelgröße erreicht und eine Angleridylle im Schnee in Oberbayern zeigt. Die heile Welt scheint also trotz der "schweren Krawalle" im von Osnabrück nur ca. 50 Kilometer entfernten Ahaus nicht ernsthaft bedroht. Was die Anordnung der Artikel betrifft, ist das Beispiel in der Welt interessant, auch wenn es erst auf den zweiten Blick ins Auge fällt. Der Castor-Artikel endet "SPD und Grünen warf er [Kanzleramtsminister Bohl] vor, mit ihrer Kritik dem Wirtschaftsstandort zu schaden." Direkt darunter beginnt ein Bericht mit dem Titel "Dax überspringt die 5000-Punkte-Marke". Zufall? Ich denke nicht.

 

 

Appendix: Beispiele

 

Neues Deutschland: ”Staat zeigt Härte: Castor am Ziel”

Neue Osnabrücker Zeitung: ”Schwere Krawalle nach Castor-Ankunft”

Süddeutsche Zeitung: ”Wasserwerfer bahnen Castor-Transport den Weg”

TAZ: ”Castor durchgeprügelt”

Die Welt: ”Polizei macht Weg für Castor frei”

 

1. Der bislang größte Atommülltransport ist am Freitag zunächst ohne schwere Zusammenstöße zwischen Atomkraftgegnern und der Polizei quer durch Deutschland gerollt. (Die Welt)

2. Begleitet von Demonstrationen, Blockadeversuchen und anderen Protestaktionen, hat der Zug mit 60 Tonnen hochradioaktiven Brennstäben aus süddeutsche Kernkraftwerken am Freitagabend sein Ziel im nordrhein-westfälischen Ahaus erreicht. (NOZ)

3. Ein Großaufgebot der Polizei hat am Freitag den Castor-Behältern mit 60 Tonnen hochradioaktivem Atommüll den Weg gebahnt. (ND)

4. Andere mußten einen Teil des Weges zu Fuß zurücklegen (TAZ)

5. Hier hatte die Polizei bereits während der Nachtstunden etwa 150 Castorgegner in der Umgebung des Zwischenlagers festgenommen. (ND)

6. Demonstranten wurden mit nacktem Rücken über den Asphalt geschleift . . . (TAZ)

7. 450 Festnahmen in Ahaus (NOZ)

8. Schlagstöcke, Festnahmen, Verletzte, Urteile gegen 10 000 Atomgegner (ND).

9. Zur Musik der Band [die Toten Hosen] räumte die Polizei den Bahnübergang. (SZ)

10. Polizisten trugen Sitzblockierer von einem Bahnübergang weg. (Die Welt)

11. Zu einem der brutalsten Einsätze kam es am Nachmittag auf der Bahnhofstraße. (ND)

12. Die Polizei setzte nach eigenen Angaben vereinzelt Schlagstöcke ein, widersprach aber der Darstellung von Atomgegnern, wonach die Polizisten massiv mit Reizgas und Schlagstöcken gegen Demonstranten vorgegangen seien. (Die Welt)

13. Unmittelbar vor dem Ort halten Atomgegner den Castor-Zug immer wieder auf. Polizei setzt Wasserwerfer und Schlagstöcke ein. (TAZ)

 

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