Angela Grimm, Potsdam


AG Spracherwerb: Prosodie

Der kindliche Spracherwerb beginnt lange vor der Produktion von Wörtern mit der Perzeption phonologischer Eigenschaften der Muttersprache. Zum Zeitpunkt der Geburt erkennen die Kinder bereits wesentliche prosodische Charakteristika, die sie vermutlich pränatal wahrnehmen (Mehler et al. 1988). Die Orientierung auf Rhythmus und Intonation sensibilisiert die Kinder für weitere prosodische Merkmale wie z.B. Silbengewicht und Betonungsmuster; es erfolgt also sowohl auf der prosodischen als auch auf der segmentalen Ebene eine Fokuseinengung von Satzspezifika hin zu Wort- (oder besser: Silben-) spezifika, die zugleich die Grundlage für ein erfolgreiche Wortsegmentation darstellt.

Mit 3,0 Jahren sind die meisten prosodischen Aspekte produktiv vorhanden. Auf dem Weg zur zielsprachlichen Repräsentation passieren die Kinder Zwischenphasen (intermediate stages), die aufgrund ihrer Systematik nicht als Abweichungen gesehen werden können.

Vielmehr gibt es, ausgehend von der Parallelitätshypothese, weder im normalen noch im gestörten Spracherwerb wirkliche Abweichungen. Es handelt sich bei den Sprachentwicklungsstörungen vielmehr um Stagnationen auf einer der Zwischenphasen des normalen Erwerbsgeschehens, in deren Folge genau diese Phase zeitlich extrem ausgedehnt wird ("Zeitlupeneffekt"). Eben dieses Phänomen macht es der Forschung überhaupt möglich, jene Charakteristika des Spracherwerbs zu untersuchen, die nur infolge der Stagnation artikuliert zum Vorschein kommen.

 

Das Paper, das hier vorgestellt werden soll, diskutiert die grundlegende Funktion eines korrekten prosodischen Parametersettings im Hinblick auf jedes weitere Erwerbsgeschehen. Den theoretischen Rahmen bildet die Metrische Phonologie, deren Grundbegriffe und Hierarchien, bezogen auf das Deutsche, hier kurz vorgestellt werden:

Das sprachlernende Kind sieht sich zunächst mit der Aufgabe konfrontiert, diese Werte zu identifizieren und die entsprechenden Parameter zu setzen.

Fikkert (1994) faßte die verschiedenen Phasen der prosodischen Entwicklung in einem Modell zusammen, deren wichtigste Merkmale der Rhythmus, die Betonung, das Gewicht und das Wachstum des Segments der Zieleinheit chronologisch geordnet beobachtbar sind.

 

Auf Grundlage dieses Modells, das hier nur zusammengefaßt dargestellt wurde, ist es möglich, die genaue Phase einer Stagnation zu ermitteln und die therapeutischen Schritte festzulegen.

Evidenz für diesen Ansatzes wird durch die explizite Darstellung von Diagnose und Therapie zweier sprachentwicklungsgestörter Kinder erbracht. Beide Kinder sind typische late talker mit (extremen) Verzögerungen in Grammatik und Phonologie.

 

Kind 1 stagnierte hinsichtlich des Betonungsmerkmals auf Phase 1 und zeigte infolgedessen ein Profil, in dem

1. subminimale Wörter

2. unklare Segmentationsstrategie hinsichtlich des Kopfs bzw. des Nichtkopfs

als relevante Merkmale elizitiert wurden. Als Ursache der Verzögerung wird eine Strategie [Letzt erwähnte Silbe] angenommen, die aus den Produktionsdaten (die hier nicht extra aufgeführt werden sollen) eindeutig ersichtlich ist. Das Kind ist offensichtlich nicht in der Lage, dieses Merkmal als erwerbsirrelevant zu identifizieren, was "zu einem Zustand der Unentscheidbarkeit zwischen [TROCHÄUS] und [IAMBUS]" (Fikkert et al. 1998) führt und die Stagnation verursacht.

Da Einheiten in der Größe eines Fußes noch gar nicht etabliert waren, orientierte die Therapie primär darauf, den Übergang zum Trochäus zu triggern.

 

Im Profil von Kind 2 zeigten sich als relevante Merkmale

1. level stress

2. das Fehlen von superschweren Silben.

Damit deutet das Entwicklungsmuster auf eine Stagnation in Phase 4 hin. Das Kind hatte, den Daten entsprechend, weder die Komposita-Betonungsregel noch die Wortbetonungsregel erworben. In der Therapie legte man deshalb den Schwerpunkt auf superschwere Silben und Komposita.

 

Die beiden erfolgreich abgeschlossenen Therapien "zeigen klar die große Bedeutung eines akkuraten psycholinguistischen Spracherwerbsmodells sowohl für die Diagnose von Kindern mit phonologischen Störungen als auch für die Therapie." Daß ein lange vernachlässigter Forschungsbereich wie die Prosodie im gestörten Spracherwerb eine derart zentrale Rolle spielt, war vermutlich auch für die Autoren eine Überraschung.

Wie sie weiterhin herausstellten, können prosodische Störungen Defizite auf anderen sprachlichen Ebenen verursachen:

Prosodische Störungen sind persistente Störungen und können nicht im späteren Eigenerwerb behoben werden.

 

Die hier vorgestellte Studie steht im Einklang mit einem Forschungstrend, der sich gerade die Prosodie in allen Facetten zum Gegenstand erhoben hat. Aufgrund der z.T. noch unvollständigen Datenlage treten notwendigerweise Differenzen zwischen der Perzeptions- und Produktionsforschung auf. Eine schwierig zu beantwortende Frage wird sein, warum die Kinder noch vor dem Erreichen des ersten Lebensjahres die muttersprachlichen Betonungsmuster zwar perzeptiv erfaßt haben (Jusczyk et al. 1993a) und sogar den Trochäus als das prominente Muster präferieren (Jusczyk et al. 1993b), aber Betonung als relevantes Merkmal im produktiven Vokabular erst mit ca. 2,0 Jahren (Fikkert 1994) auftritt. Es ist vor allem deshalb unklar, weil die Kinder im Rahmen einer Parameterfixierungstheorie eigentlich nur Parameter setzen müssen, um zum korrekten Output zu gelangen.

Kinder nutzen prosodische Merkmale, um lexikalische Einheiten zu segmentieren (Jusczyk, 1997); z.B. weist das Auftreten einer betonten Silbe auf einen Wortbeginn hin. Kinder, die diesen Parameter nicht erworben haben, dürften de facto aus dem kontinuierlichen Lautstrom keine lexikalischen Einheiten identifizieren können, da sie über keine andere (effiziente) Segmentationsstrategie verfügen. Aus diesem Grunde ist es einigermaßen schwierig, mit dem jetzigen Wissensstand die bei Kind 1 beobachtete Strategie [LETZT BETONBARE SILBE] zu erklären, da das Kind gar nicht wissen kann, wo sich die letzte betonbare Silbe der Zieleinheit überhaupt befindet.

 

 

Literatur:

Fikkert, P.; Penner, Z. und K. Wymann (1998): Das Comeback der Prosodie. Neue Wege in der Diagnose und Therapie von phonologischen Störungen. Uberarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags auf der "22nd Boston University Conference on Child Development" . Konstanz

 

weitere Referenzen:

a) Jusczyk, P.W., Friederici, A.D., Wessels, J.M.I., Svenkerud, V.Y. & Jusczyk, A.M. (1993): Infants sensitivity to the sound patterns of native language words. Journal of Memory and Language 32, 402-440.

 

b) Jusczyk, P.W., Cutler, A. & Redanz, N.H. (1993): Infants preference for the predominant stress patterns of English words. Child Development 64, 675-687.

 

Jusczyk, P.W. (1997) The Discovery of Spoken Language. MIT Press

 

Mehler, J., Jusczyk,P.W., Lambertz,G., Halsted, N., Bertoncini, J., & Amiel-Tison, C. (1988): A precursor of language acquisition in young infants. Cognition 29, 143-178

 

Fikkert, P. (1994): On the acquisition of prosodic structure. Dordrecht: ICG Printing

 

Cutler, A. (1994): Segmentation problems, rhythmic solutions. Lingua 92, 81-104.