Artefaktbezeichnungen in semantischen Theorien

Philipp Overberg

Münster

overbph@uni-muenster.de

 

1. Einleitung

Die AG Artefaktbezeichungen in semantischen Theorien habe ich angeboten, um meine Gedanken zu dem Thema zu ordnen und zu testen, ob es sich eventuell als Thema für meine anstehende Magisterarbeit eignet, und um weitere Anregungen zu bekommen. Am Anfang stand die Verwunderung darüber, daß Theorien zur lexikalischen Semantik stets mit dem Anspruch auftreten, die Struktur des gesamten Lexikons erklären zu können, sich aber nur mit sehr wenigen Beispielen auseinandersetzen. Prominentestes Beispiel: Sessel oder Stuhl? Da liegt der Verdacht nahe, daß die jeweiligen Theorien in einer gewissen Abhängigkeit von dem gewählten Beispiel stehen. Um diesem Verdacht nachzugehen, möchte ich verschiedene Ansätze miteinander vergleichen, die an ein und demselben Beispiel aufgehängt sind. In einem zweiten Schritt sollte dann durch das Austauschen und Einsetzen eines Beispiels in eine Theorie, für die es nicht gemacht ist - bzw. die für das Beispiel nicht gemacht ist - gezeigt werden, daß eine einzige Theorie zur Erklärung des gesamten Wortschatzes nicht ausreicht, und daß man vielmehr die für die verschiedenen Bereiche, in denen unterschiedliche Theorien die jeweiligen Beispiele gut erklären, ein sich nicht ausschließendes Nebeneinander verschiedener Ansätze braucht. Ein dritter Schritt sollte erkunden, wo genau die Grenzen der Anwendungsgebiete verschiedener Theorien liegen. Die in Leipzig gehaltene AG stellte allerdings – wie auch dieses Paper – ein Work-in-progress dar. Ich habe versucht, Ansätze darzustellen und miteinander zu vergleichen, die um das zentrale Sessel/Stuhl-Beispiel kreisen. Den zweiten und den dritten Schritt meines ursprünglichen Gedankengangs habe ich mittlerweile wieder aufgegeben. Am Ende dieses Papers möchte ich darstellen, welche neuen Fragestellungen, die auch durch die Diskussionen im Anschluß an die AG angeregt sind, an deren Stelle getreten sind.

 

2. Verschiedene Ansätze zur lexikalischen Semantik im Vergleich

Ich spreche hier erstmal vorsichtig von Ansätzen – und nicht von Theorien – weil mir nicht so richtig klar ist, was eigentlich genau eine Theorie ausmacht, und ob alle hier vorgestellten Entwürfe tatsächlich den gleichen Stellenwert haben. Ob z. B. das, was ich unter 2.1 vorstelle (man nennt es gemeinhin Wortfeldtheorie), eine Theorie ist, oder eher eine Konzeption, oder – was noch schwieriger zu beantworten ist – ob es überhaupt eine (einheitliche) Konzeption von Wortfeld gibt, ist eine Frage, die nicht ganz unwichtig ist und unter Punkt 3.3.7. nochmal eine wichtige Rolle spielen wird. In Leipzig habe ich stark polemisierend meiner Enttäuschung über die mangelnde Theoriewürdigkeit einiger Ansätze Ausdruck verliehen, indem ich den aus ganzen drei Sätzen bestehenden 'Aufsatz' meines Grundschulkollegen Ralf Tönskemper über seine beim Besuch des Bergbaumuseums Bochum gewonnenen Erkenntnisse über das bergmännische Handwerksgerät mit semantischen Theorien auf eine Stufe stellte.

Beginnen möchte ich nun mit der Darstellung einiger Grundgedanken der Wortfeldkonzeption.

 

2.1. Wörter und Felder

Der Terminus Wortfeld (gerne auch mit speziellem Bezug zur Inhaltsseite der sprachlichen Zeichen Begriffsfeld oder semantisches Feld) hat in der semantischen Literatur eine erstaunliche Karriere hinter sich. Die von Jost Trier Anfang der 30er Jahre populär gemachte Feld-Metapher taucht seitdem in den unterschiedlichsten Konzeptionen zur lexikalischen Semantik auf: von der strukturellen Semantik der von E. Coseriu begründeten Tübinger Schule bis zu neuesten kognitivistischen Arbeiten. Die mit dem Wortfeld-Begriff implizierten Konzeptionen sind allerdings höchst heterogen - und das nicht nur bei verschiedenen Autoren. Trier selbst verwendet den Begriff Ende der 60er Jahre in einer Weise, die seiner früheren Konzeption in wesentlichen Punkten widerspricht. Trotz dieses vagen und uneinheitlichen Gebrauchs von Wortfeld lohnt es sich, einen Blick auf die von C.-P. Herbermann (vgl. 1995, S. 264f.) herausgearbeiteten Essentials der ursprünglichen Wortfeld-Konzeption zu werfen:

I) Man hat sich ein Wortfeld als eine relativ abgeschlossene Ganzheit vorzustellen, die den Begriff (=Inhalt) eines Wortes (=Ausdruck) im Verein mit anderen umgreift.

II) Diese Ganzheit ist gegliedert, und zwar wie ein Mosaik:

a) Die Begriffe begrenzen sich wechselseitig.

b) Die Begriffe sind scharf bestimmt.

c) Das Feld ist lückenlos abgedeckt.

Dabei erhebt die Wortfeldkonzeption den umfassenden Anspruch, daß das gesamte Lexikon aus solchen Feldern besteht.

Ein tolles Beispiel für ein Wortfeld sind die Schulnoten von sehr gut bis ungenügend: Das Feld stellt eine abgeschlossene Ganzheit dar, weil es keine Noten außer den sechsen von sehr gut bis ungenügend gibt. Nur durch die wechselseitige Abgrenzung – d. h. die Stellung von beispielsweise befriedigend zwischen gut und ausreichend – bestimmt sich die Bedeutung der Note. Die Grenzen zwischen den Noten sind fest umrissen: Es gibt keinen unscharfen Bereich zwischen 4- und 5+. Das Feld der Schulnoten ist völlig lückenlos abgedeckt, da es keine schulische Leistung gibt, die nicht unter irgendeine dieser Noten fällt.

 

2.2. Sessel und Stühle

Im folgenden werden verschiedene Ansätze vorgestellt, die sich mit der Semantik von Artefaktbezeichnungen beschäftigen. Der beliebteste Wortschatzausschnitt, der als Beispiel für solche Arbeiten immer wieder herhalten muß, ist der der Bezeichnungen für Sitzgelegenheiten. Ich habe mich für die Kontinuität der Frage Was ist ein Sessel?, was ist ein Stuhl? entschieden, um so möglicherweise die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Arbeiten herausstellen zu können.

 

2.2.1. Gipper (1959)

Helmut Gippers Ausgangspunkt ist Leo Weisgerbers Vorstellung von der Existenz einer geistigen oder sprachlichen Zwischenwelt:

Sieht man sämtliche Inhalte einer Sprache zusammen, so ergibt sich eine ganze Weltansicht, das 'Weltbild' dieser Sprache [...]. Da sich dieses sprachliche Weltbild mit der Spracherlernung sozusagen als eine geistige Zwischenwelt zwischen Mensch und Welt schiebt, spricht L. Weisgerber auch von einer geistigen oder sprachlichen 'Zwischenwelt', ein Begriff, der zum Kern der Weisgerberschen Sprachauffassung gehört. (Gipper 1959 S. 274)

In dieser Zwischenwelt tummeln sich gedankliche Gebilde, geistige Gegenstände, kurz: Inhalte. Gipper bemerkt nun, daß "Existenz und Wirksamkeit der sprachlichen Zwischenwelt nicht an jedem Wort [...] gleich gut nachzuweisen" (ebd.) sind. Die Zwischenwelt mag ihre Berechtigung bei eher abstrakten Begriffen haben, die ja in der Welt kein Denotat haben, was man anfassen kann (z. B. die Schulnoten), aber bei Wörtern aus der Sachkultur wie Sessel oder Stuhl – so die Kritik an Weisgerber – sei das anders: Hier stehe das Wort unmittelbar für die Sache. Gipper will nun 'empirisch' erkunden, was es mit der Zwischenwelt bei Wörtern aus der Sachkultur so auf sich hat. Da als mögliches Ordnungsprinzip dieser Zwischenwelt 1959 in Münster natürlich nur eine Feldkonzeption in Frage kommt, wirft er ersteinmal die Frage auf, ob die Wörter für einen Sachbereich als ein Feld anzusprechen sind, desweiteren, wo die Grenzen zwischen sachlichen und sprachlichen Gesichtspunkten liegen und wie sich der muttersprachliche Einschlag, das Wirksamwerden der sprachlichen Zwischenwelt, konkret nachweisen läßt (vgl. a. a. O. S. 276). Gipper legt nun einigen "Deutschen und Ausländern verschiedenen Alters und Geschlechts, aus verschiedenen Berufen und mit verschiedener Intelligenz" (a. a. O. S. 277) 41 Abbildungen von Sitzgelegenheiten aus Möbelprospekten vor und bittet sie, "aufzuschreiben, 'wie diese Sitzgelegenheiten heißen' oder 'was das für Möbel sind'" (ebd.). Als Antworten erhält er in der Regel komplexe Lexeme, die entweder Verbindungen von Adj. + Subst. ('gepolsterter Stuhl') oder Zusammensetzungen ('Polsterlehnstuhl') sind. Das Auftauchen der Komponenten -sessel oder -stuhl wertet er nun als gleichbedeutend mit einer Antwort auf die Frage, ob dieses oder jenes Ding nun ein Stuhl sei oder ein Sessel. Diese Antworten fielen individuell recht verschieden aus. Was dem einen sein Großvatersessel ist, ist eben dem anderen sein Großvaterstuhl. Allerdings gab es Exemplare, die von auffallend vielen eindeutig als Sessel oder Stuhl angesprochen wurden. "Man darf also" – so Gipper – "nach dem heutigen Sprachempfinden mit bestimmten 'Grundvorstellungen' rechnen, wie ein Stuhl oder ein Sessel ausssehen sollte" (a. a. O. S. 281). Desweiteren kommt dabei heraus, daß die Beschaffenheit des Möbels selbst, also z. B. das Vorhandensein von Lehnen oder Polstern, nur mittelbar Einfluß auf die Entscheidung zur Zugehörigkeit zur Gruppe der Sessel oder der Stühle hat. Z. B. wurde der Behandlungsstuhl in der Zahnarztpraxis eindeutig zu den Stühlen gerechnet, obwohl er eigentlich alle Eigenschaften eines guten Sessels besitzt: Er hat Arm- und Rückenlehne, ist durchgängig gepolstert, ergonomisch geformt und so auf den Patienten individuell einstellbar, daß wir es hier überhaupt mit dem bequemsten, mit dem sesselartigsten aller Sessel zu tun haben müßten. Daß dem nicht so ist, liegt vermutlich an einer 'psychologischen' Komponente des Problems: Beim Zahnarzt fühlen wir uns in der Regel nicht besonders wohl (und zwar aus Gründen, die nichts mit Sitzen zu tun haben). Der Zahnarztstuhl kann also offenbar kein Sessel sein, weil er nicht zum 'Es-sich-gemütlich-drin-machen' ist, obwohl man es sich durchaus in ihm gemütlichen machen könnte (wenn der Zahnarzt nicht wäre). So kommt Gipper auf folgende Wesensbestimmung von Sesseln und Stühlen:

Der Sessel ist demnach eine weitaus bequemere Sitzgelegenheit, er ladet zur Ruhe und Erholung ein. Dem Stuhl haftet hingegen ein höherer Nutzwert an, man setzt sich 'auf' ihn, um etwas zu tun, zu essen oder zu arbeiten. (a. a. O. S. 282)

Die Frage, ob auch im Bereich der Sachkultur der Feldbegriff fruchtbar ist, wird negativ beantwortet (vgl. a. a. O. S. 291).

So weit so gut. Aber warum der Zahnarztstuhl überhaupt ein Stuhl sein soll, wird leider nicht klar. Hier wird übersehen, daß die Bedeutung eines komplexen Lexems eben nicht die Summe der Bedeutungen seiner Konstituenten ist! Ein Flugzeug ist ja schließlich auch nicht irgendein Zeug, das fliegt, und ein Mitesser nicht jemand, mit dem man gemeinsam eine Mahlzeit einnimmt. Desweiteren ist der Oberbegriff 'Sitzgelegenheit' einfach so vom Himmel gefallen. Gipper tut so, als sei die Existenz einer Gruppe von Artefakten, die als gruppenkonstituierende Gemeinsamkeit das 'Sitzmöbel-sein' aufweisen, als gegeben vorauszusetzen. Ebenso gibt er mit seiner Zusammenstellung von Beispielen bereits vor, welche Elemente zu dieser Gruppe gehören sollen. Dabei bin ich mir gar nicht so sicher, ob der Zahnarztstuhl wirklich ein Sitzmöbel ist, nur weil man sich – was niemand bestreitet – draufsetzen kann. Man könnte auch mit derselben Berechtigung ganz andere Gruppierungen etablieren, die teilweise unzweifelhafte Sitzgelegenheiten mit einschließen, aber auch notwendigerweise Artefakte enthalten, die unzweifelhaft keine Sitzmöbel sind: Wenn man z. B. soziokulturelle Kriterien bemüht, kann man einfach Dinge gruppieren, die z. B. ein 1.-Welt weißes Mittelklasse-Jugendzimmer der 70er Jahre konstituieren: Sitzsack, Flokati, Lavalampe, Che-Guevara-Poster etc. Der Nierentisch gehörte dann wiederum in eine andere Gruppe und so weiter und so fort.

Ein weiterer Haken an Gippers Argumentation liegt darin, daß er eigentlich gar nicht untersucht, was der Inhalt von Stuhl oder Sessel ist, sondern lediglich untersucht, welche Gegenstände Stuhl heißen und welche Sessel. Mit dieser Methode kriegt man nichts über die Semantik von Sessel oder Stuhl raus, sondern höchstens etwas über Referenz, also über die Beziehung eines sprachlichen Zeichens zu einem Gegenstand der außersprachlichen Wirklichkeit. In dieser Hinsicht ist das 'Stuhl-Heißen' wohlmöglich eher eine Eigenschaft des konkreten Gegenstandes in der außersprachlichen Wirklichkeit, als daß sich damit Erkentnisse über die Inhaltsseite sprachlicher Zeichen gewinnen ließen.

Immerhin kommt Gipper zu dem Schluß, daß "in den heutigen Wortgeltungen und im heutigen Sprachgebrauch sprachgeschichtliche, synchron-inhaltliche, sachliche und psychologische Faktoren in so verschlungener Weise zusammen [wirken], daß man nur mit kombinierten Methoden und vor allem mit offenem Blick auf die Sprachwirklichkeit weiterkommen kann" (a. a. O. S. 291f.).

 

2.2.2. Pottier

Bernard Pottier wird heute von vielen als der Vater der modernen strukturalistischen (Merkmals-)Semantik gehandelt. Sein Ruhm fußt hauptsächlich auf dem Aufsatz von 1964. Er stellt gerade die Ausdrücke für sichtbare Objekte an den Anfang und ins Zentrum seiner Betrachtung. Im Gegensatz zu eher abstrakten Begriffen sei bei solchen Ausdrücken nämlich die Analyse leichter durch unsere Erfahrung zu verifizieren. In einem Gedankenexperiment malt sich Pottier nun aus, welche Objekte man (im Französischen) so alles als Stuhl (chaise) bezeichnen könnte. Dann sortiert er die Charakteristika dieser Objekte: Die, die nicht allen (Stuhl-)Objekten gemeinsam sind, wie z. B. eine bestimmte Farbe oder das Material, läßt er beiseite, die anderen behandelt er als relevante Merkmale. Mit den anderen Objekten, die er zu den Sitzgelegenheiten zählt, verfährt er ebenso. In Anlehnung an die strukturalistische Phonologie gelangt er so zu einer Tabelle distinktiver Merkmale der Bedeutungen der französischen Wörter für Sitzgelegenheiten:

 

   

s1

s2

s3

s4

s5

s6

 
 

chaise

+

+

+

+

-

+

= S1

 

fauteuil

+

+

+

+

+

+

= S2

 

tabouret

-

+

+

+

-

+

= S3

 

canapé

+

+

-

+

+

+

= S4

 

pouf

-

+

+

+

-

-

= S5

(1963 S. 16)

Die kleinen s heißen Seme; das sind die minimalen inhaltsunterscheidenden Züge: s1 = 'mit Rückenlehne', s2 = 'auf Beinen', s3 = 'für 1 Person', s4 = 'zum Sichdraufsetzen', s5 = 'mit Armlehne', s6 'aus festem Material'. Ein großes S heißt Semem. Es setzt sich aus der Verbindung der einzelnen Seme zusammen und repräsentiert die Inhaltsseite der sprachlichen Zeichen. Die Seme, die allen Sememen einer Gruppe gemeinsam sind (hier s2 und s4), bilden ein Archisemem. Das ist die Inhaltsstruktur des jeweiligen Oberbegriffs, des sog. Archilexems, in diesem Fall also siège 'Sitzgelegenheit'. In der obenstehenden Tabelle ist m. E. aber mindestens eines der beiden Seme s2 oder s4 redundant. Zudem scheint die Begrenzung der Gruppe nach oben und unten willkürlich! Man könnte ja denken, daß alle (und nur) die Lexeme eine Gruppe bilden, die gemeinsame Seme aufweisen, deren Vorhandensein (+) oder Nichtvorhandensein (-) für alle Sememe relevant ist. In späteren Versionen einer solchen Semanalyse läßt Pottier aber (notgedrungen) auch Seme zu, die für einzelne Sememe der zu gruppierenden Lexeme irrelevant sind (vgl. 1965 S. 34: hier sind die Pluszeichen in der Tabelle bei s1 und s5 für canapé bereits eingeklammert.)! Auf diese Weise könnte man die Gruppe nach oben mindestens bis auf das Archilexem Ding (und vielleicht unter Bemühung noch allgemeinerer Kategorien, die auch Abstraktes und Prozesse miteinschließen, ad infinitum) ausdehnen. Nach unten käme man auch prima mit lediglich zwei Ausdrücken aus, die jeweils ein gemeinsames und ein unterschiedliches Sem haben. Wenn man ganz gemein sein will, könnte man vielleicht sogar sagen, die Lexeme sind so gruppiert, daß gerade nicht auffällt, daß eine derartige Analyse in letzter Konsequenz auf 'Gruppierungen' zurückzuführen ist, die nur ein Lexem enthalten. Ergebnis wären unsinnige tautologische Analysen folgender Art: Das semantische Feld Stuhl im Französischen beinhaltet das Lexem chaise mit dem Semem 'Stuhl' und der Semstruktur '(+) Stuhl'.

 

2.2.3. Faust (1978)

Manfred Faust wirft als Schüler von William Labov den Begriff der Vagheit in die Diskussion. Labov hatte sich (1976) von einer Idee des Philosophen M. Black inspirieren lassen (vgl. Faust 1978 S. 378): Man stelle sich ein Kontinuum von Artefakten vor, an dessen einem Ende ein roher Holzklotz steht und am anderen ein Chippendale-Stuhl. Dazwischen befinden sich – nach ihrer Ähnlichkeit geordnet – hölzerne Objekte, die in Richtung Stuhl immer feiner bearbeitet sind, also immer stuhliger mit abnehmender Holzklotzigkeit werden. Betrachter dürften nun Schwierigkeiten bekommen, die Reihe der Objekte an einer Stelle klar in Stühle und Nicht-Stühle zu scheiden. Es gibt zwar in der Nähe des Holzklotzes ziemlich eindeutige Nicht-Stühle und in der Nähe des Stuhls ziemlich eindeutige Stühle, dazwischen aber ist ein vager Bereich. Das gilt nach Black für alle Symbole, bei deren Verwendung Objekte durch die sinnliche Wahrnehmung identifiziert werden müssen. Durch Befragung von Testpersonen versuchte Labov nun, diesen Vagheitsbereich einzuschränken und quantitativ zu bestimmen: Er zeigte schematische Abbildungen von Tassen, die graduell abgestuft in der Höhe oder in der Breite variieren, so daß er z. B. eine extrem hohe Tasse erhält, die aussieht wie ein Weißbierglas mit Henkel, oder die Tasse verbreitert sich nach und nach zum Schälchen usw. Die englischsprachigen Testpersonen sagten für die ganz kleine (= normale) Tasse erwartungsgemäß cup, für die längste Tasse vase, für die breiteste mug und für die dazwischen mal das eine und mal das andere. Interessanterweise war die Wahl der Bezeichnung nicht nur von der Form des Gefäßes abhängig, sondern auch vom jeweils konstruierten Kontext: Sollte man sich eine Vase mit Kaffee drin vorstellen, war es eher eine Tasse, die hypothetische Füllung mit Brei gab den Ausschlag eher in Richtung mug und mit Blumen gefüllte Tassen wurden tendenziell eher als vase angesprochen. Damit hatte Labov gezeigt, daß nicht nur die Gestalt, sondern auch die (gedachte) Funktion eines Gegenstandes ein Kriterium für die Verwendung einer Bezeichnung darstellt, und also sprachlich fixierte Kategorien wie cup nicht vollständig durch die (sinnlich wahrnehmbaren) Merkmale des damit bezeichneten Objekts festgelegt sind. Die wahrnehmbaren Grenzen sind nicht klar gezogen, sondern vage.

Faust stellt nun Labovs Versuchsanordnung für die deutschen Bezeichnungen für Sitzmöbel nach: Er legt Testpersonen schematische Zeichungen von Sitzmöbeln vor, die systematisch in Sitzhöhe, Sitzbreite, dem Vorhandensein von Polstern, Arm- und Rückenlehnen usw. variieren und fragt sie nach den Bezeichnungen für die abgebildeten Objekte. Ergebnis: Auf die 'Objekte', die "am besten die Standardform" (S. 383) eines Stuhls, eines Sofas etc. repräsentieren, entfällt der höchste Anteil von Antworten in einer einzigen Kategorie, d. h., sie werden am eindeutigsten als Stuhl, Sofa etc. bezeichnet. Dazwischen liegt eine Vagheits-Zone. Wer hätte das gedacht! Desweiteren läßt sich aus den Antworten ableiten, daß das Wissen um die Funktion der Objekte für die Wahl Bezeichnung eher ausschlaggebend ist als das Wissen um die Beschaffenheit (= die Merkmale) der Objekte. Einen Unterschied machte in dieser Hinsicht lediglich die befragte Altersgruppe der siebenjährigen Grundschüler: Sie vergaben die Bezeichnungen auch für die unstrittigen Exemplare nicht so eindeutig wie die Erwachsenen; in Zweifelsfällen schienen sie sich doch eher an den Merkmalen zu orientieren, als an den Funktionen. Außerdem verfügten sie insgesamt über weniger verschiedene Ausdrücke als die älteren Sprecher.

 

2.2.4. Hoinkes (1995)

In dem Aufsatz Immer wieder 'Stuhl' ... stellt Ulrich Hoinkes zunächst die Geschichte des 'Stuhl'-Beispiels in der lexikalischen Semantik dar. Dann entwickelt er auf der Grundlage der Ansätze von Gipper, Faust und Pottier seine Neuinterpretation dieses Wortschatzausschnitts. Hoinkes sieht als Essenz der Analyse Gippers an, daß der 'Nutzwert' eines Sitzmöbels offenbar den entscheidenden Ausschlag dafür gibt, ob es als Sessel oder als Stuhl anzusprechen ist. Auch in Fausts Analyse spielt der Aspekt der Funktionalität eine entscheidende Rolle, wie Hoinkes aus dem Auftauchen des Wörtchens zum in sämtlichen Definitionen, die Faust liefert (z. B. Stuhl = 'Möbel zum Sitzen für eine Person' etc.), zu erkennen glaubt (vgl. S. 312). Für Hoinkes liegt die Wichtigkeit des funktionalen Aspekts in der Natur des Untersuchungsgegenstands begründet: Bei Sessel, Stuhl etc. handelt es sich um Bezeichnungen für Artefakte. An Ausführungen Jean-Paul Sartres anknüpfend bestimmt Hoinkes Artefakte als "zunächst einmal und grundsätzlich durch ihre Funktionalität definiert" (S. 317). En détail umfaßt die Argumentation folgende Schritte:

1) Ein Artefakt ist ein Gegenstand, der aufgrund einer bestimmten Vorstellung, eines begrifflichen Konzepts entstanden ist. Dieses Konzept des Gegenstands geht seiner Erstellung voraus und beinhaltet im strengen Sinne das Wesentliche des Gegenstands.

2) Aus der jeweiligen Konzeption eines Artefakts läßt sich unabhängig von jeder Realisierung eine Produktionsvorschrift ableiten, die bereits auf die konkrete Erstellung des Artefakts Bezug nimmt.

3) Die Produktionsvorschrift beruht ihrerseits wieder auf dem Verwendungszweck des Artefakts, der somit sein eigentliches Wesen ausmacht. (S. 317)

Grundsätzlich fühlt Hoinkes sich aber dem strukturalistischen Ansatz à la Pottier verpflichtet. Dementsprechend sucht er nun Merkmale für die Beschreibung der Wörter für Sitzgelegenheiten im Neuhochdeutschen, die dem Aspekt der Funktionalität Rechnung tragen. Für die semantische Beschreibung von Stuhl setzt er folglich drei sogenannte Inhaltsfunktionen an (vgl. S. 318):

Stuhl: s(f)1: 'zum Sitzen' s(f)2: 'zum Anlehnen' s(f)3: 'für 1 Person

Dieselben Inhaltsfunktionen gelten auch für Sessel; um nun Sessel von Stuhl abgrenzen zu können, wird für Sessel zusätzlich die Inhaltsfunktion s(f)4: 'um es sich bequem zu machen' angesetzt. Die Analyse des ganzen Wortschatzausschnitts mündet dann in einer tabellarischen Darstellung (S. 321; s. u.) der Lexeme und deren Inhaltsfunktionen. Letztere werden nun einfach wie Merkmale in einem klassischen Ansatz behandelt - etwa wie die Seme bei Pottier.

 

 

zum

Stehen

zum

Liegen

zum Sitzen

 

zum Anlehnen

um es sich bequem zu machen

 

für 1 Person

für mehrere Personen

Hocker /

(Schemel)

O

-

X

 

O

-

 

X

-

Stuhl

 

-

-

X

__

X

-

 

X

-

Sessel

 

-

-

X

 

X

X

 

X

-

Bank

 

-

-

X

 

O

-

 

-

X

Sofa /

Couch

-

(X)2

(X)1

 

(X)1

X

 

(X)2

(X)1

  Dimension 1
(physisch)
  Dimension 2
(psychisch)
  Dimension 3
(sozial)

Die drei Dimensions-Kästchen sind im Original übrigens dreidimensional dargestellt. Außerdem geht oben von dem rechten Kästchen (Dimension 3) ein Pfeil zur rechten Spalte des linken Kästchens (zum Sitzen). Was das nun darstellen soll, geht aus dem Text ebensowenig hervor, wie die Funktion des Verbindungsstrichs zwischen erster und zweiter Dimension auf Stuhlhöhe. Ein einfaches X bedeutet jedenfalls 'Merkmal erfordert, da konstitutiv', der Kringel O heißt 'Merkmal nicht erfordert, da nicht konstitutiv, obwohl eventuell beachtet' und der Strich - 'Merkmal nicht möglich, da nicht konstitutiv und nicht beachtet', ein eingeklammertes (X) steht für 'Merkmal erfordert, da bedingt konstitutiv und exklusiv zu anderem Merkmal'. Die Indizes bei (X)1 und (X)2 tragen wohl folgendem Gedanken Rechnung: Wenn man auf einem Sofa liegt, dann sitzt man nicht, und man lehnt sich auch nicht an, und dann ist man allein. Ist man aber nicht allein auf dem Sofa, so sitzt man, und dann lehnt man sich auch an. Diese Unterscheidung scheint mir aus dreierlei Gründen fragwürdig: 1) Die klassische Trias Merkmal a) trifft zu, b) trifft nicht zu, c) ist irrelevant wird unötig durch eine vierte Möglichkeit weiter aufgeblasen. 2) Mit derselben Argumentation könnte man z. B. auch für Stuhl das Merkmal 'zum Stehen' als bedingt konstitutiv ansehen: Ein Stuhl muß nicht nur zum Sitzen, sondern auch zum Sichdraufstellen gemacht sein. Man stelle sich einen Stuhl vor, auf dem man super sitzen kann, auf den man aber nicht mal eben steigen kann, um ein Buch oben aus dem Regal zu holen. Das wäre ein schlechter Stuhl. Also ist ein (ordentlicher) Stuhl mal zum Sitzen und mal zum Stehen. Steht man auf dem Stuhl, so sitzt man nicht. Sitzt man nicht, lehnt man sich auch nicht an, und das Merkmal 'um es sich bequem zu machen' wird irrelevant: also O. 3) Wenn man schon in die Analyse der Wortbedeutung einfließen läßt, daß ein Sofa nicht unbedingt nur '+ zum Sitzen' und '+ für mehrere Personen' und '+ bequem' ist, sondern daß man sich mal alleine, mal mit andern, liegend, sitzend, stehend usw. darauf rumlümmeln kann, dann ist man eben bei dem Problem der Vagheit und bei Prototypensemantik angelangt, und muß eben die Suche nach diskreten Merkmalen aufgeben, was dem Autor aber auch wieder nicht recht ist, da er sich nicht "von der Axiomatik strukturalistischen Denkens entfernen" (S. 328) will.

Die Leistung dieses Ansatzes liegt zunächst wohl darin, daß als Merkmale ausschließlich die sogenannten Inhaltsfunktionen herangezogen werden. Dadurch wird eine Einheitlichkeit in der Darstellung der Inhaltsstruktur erreicht, die sich angenehm von der Beliebigkeit der Analyse Pottiers abhebt, der ja so kategoriell unterschiedliche Merkmale wie 'mit Armlehne' und 'zum Sichdraufsetzen' nebeneinanderstellt und als völlig gleichrangig behandelt. Allerdings bleibt hier der Verdacht bestehen, daß um der Einheitlichkeit Willen die Merkmale lediglich als 'Funktion' (um-)formuliert worden sind: Ist denn 'zum Anlehnen' wirklich etwas anderes als 'mit Lehne'? Der Unterschied zwischen Merkmalen (allgemein), Semen (im Sinne Pottiers) und Inhaltsfunktionen bzw. Funktionsinhalten verschwimmt zusehends, auch in Hoinkes Formulierungen: Er spricht in einem Atemzug von "Merkmalen (Funktionsinhalten, Semen)" (S. 321). Außerdem ist nicht klar, nach welchen Kriterien die Merkmale angesetzt werden. Und warum braucht man zwei unterschiedliche Merkmale 'für 1 Person' und 'für mehrere Personen'? Man müßte doch auch einfach mit dem Merkmal 'für maximal eine Person' auskommen.

Die Gruppierung der Merkmale in drei Dimensionen läuft dem Bestreben, eine einheitliche Matrix zu schaffen, ebenso zuwider. Ältere Ansätze (wie z. B. der von Pottier) haben das Problem einfach ignoriert, daß bei der Wahl der Merkmale gewissermaßen Äpfel und Birnen in einen Topf geworfen werden. Hoinkes löst dieses Problem zwar auch nicht, macht aber wenigstens durch die Heraushebung verschiedener Dimensionen darauf aufmerksam.

 

2.3. Semantische Theorien, die mit anderen Beispielen arbeiten

Bis zu diesem Teil meiner ursprünglichen Konzeption bin ich während der AG in Leipzig nicht vorgedrungen. Und an dieser Stelle werde ich das auch nicht nachholen, da sich mein Plan geändert hat: Eigentlich sollten nun, nachdem einige typische Arbeiten vorgestellt sind, die mit Artefaktbezeichnungen als Beispielen arbeiten, Ansätze betrachtet werden, die mit anderen Beispielen arbeiten. Dann wollte ich ergründen, ob die Andersartigkeit dieser Arbeiten vielleicht mit der Andersartigkeit der Beispiele korreliert. Die Hypothese war konkret folgende: Die Merkmalssemantik – also Arbeiten aus dem oben dargestellten Bereich – sucht sich ihre Beispiele aus dem Bereich der Artefaktbezeichnungen und die Prototypensemantik aus dem Bereich der Bezeichnungen für natürliche Arten. So einfach ist es aber leider wohl doch nicht. Dann fing ich an mich zu fragen, ob Prototypensemantik überhaupt 'das andere' ist, und was eigentlich genau Prototypensemantik ist. Und was Merkmalssemantik. Und ob man einfach so eine Opposition zwischen beiden Konzeptionen aufbauen kann. Das kristallisierte sich langsam als eine wichtige Fragestellung heraus. Die Beschäftigung mit diesem Problem führte schließlich zur endgültigen Themenwahl für meine Magisterarbeit. Was genau ich da vorhabe, möchte ich nun im folgenden Abschnitt kurz vorstellen.

 

3. Ausblick

Das Thema meiner Arbeit steht jetzt fest. Es lautet: Merkmalssemantik vs. Prototypensemantik. Anspruch und Leistung zweier Grundkonzepte der lexikalischen Semantik. Es ist so allgemein gehalten, damit ich eine überblicksartige Darstellung liefern kann und mich nicht zu sehr in Details verstricke.

Es folgt meine vorläufige Gliederung mit ein par kurzen Erläuterungen, worum es in den betreffenden Abschnitten gehen soll. Um die Verwirrung koplett zu machen, habe ich die Klassifikationsnummern der Überschriften stehengelassen und noch eine 3 davorgesetzt, weil wir uns ja schließlich in Kapitel drei dieses Papers befinden. Die Reihenfolge der Kapitel steht aber (besonders im Abschnitt 3.3.) leider noch nicht so fest, wie die Numerierung vermuten läßt. Außerdem sieht es so aus, als läge mein Schwerpunkt unverhältnismäßig auf der Darstellung der Merkmalssemantik. Der Eindruck täuscht. Ich habe bisher lediglich an diesem Themenkomplex mehr gearbeitet, so daß die Gliederung an dieser Stelle einfach schon ein bißchen differenzierter ist.

 

3.1. Verortung und Grundlagen

Als erstes werde ich da wohl klären müssen, was eigentlich Semantik ist, und welche Stellung darin speziell der lexikalischen Semantik zukommt. Wenn man nun unter Semantik die linguistische Disziplin verstehen will, die sich mit der Inhaltsseite (mit den Bedeutungen) sprachlicher Zeichen beschäftigt, und die lexikalische Semantik sich speziell um die Zeichen einer bestimmten Größe kümmert, die gemeinhin als Wort angesprochen werden, und im besonderen Aufschluß über die innere Struktur des Wortschatzes liefern soll, dann müssen zunächst auch die zeichentheoretischen Grundlagen erörtert werden.

3.2. Gegenstände

Dann muß erörtert werden, was ich eigentlich unter Merkmalssemantik verstehe und was unter Prototypensemantik. Bevor ich also darlegen kann, warum ich diese beiden in sich recht heterogenen theoretischen Ansätze in eine recht plumpe Opposition zueinander setze, komme ich um ausführliche Referate folgender Entwürfe wohl nicht herum:

3.2.1. Merkmalssemantik:

3.2.1.1. Strukturalistische Semantik

3.2.1.1.1. Europäische strukturelle Semantik

Hier stelle ich die wichtigsten Arbeiten folgender Autoren vor: De Saussure, Hjelmslev, Pottier, Heringer, v. Held, Greimas, Tübinger Schule (Coseriu, Geckeler).

3.2.1.1.2. Amerikanische strukturelle Semantik (Komponentialanalyse in der Tradition der Ethnolinguistik)

3.2.1.1.2.1. 'Kinship-Semantics'

Die komponentialanalytische Methode der Analyse der Verwandtschaftsbezeichnungen der Herren Goodenough und Lounsbury steht auf dem Programm.

3.2.1.1.2.2. Andere Komponentialanalysen

Hier werden (eventuell) auch noch Bendix und Nida berücksichtigt.

3.2.1.2. Lexikalische Semantik und Generative Transformationsgrammatik

Katz / Fodor, Bierwisch und andere.

3.2.1.3. Merkmalreduktionismus

Frau Wierzbickas Versuch der Eruierung von semantic primitives

3.2.2. Prototypensemantik

3.2.2.1. Die 'Standardversion'

Entsprechend meinem Lektürestand sind meine Vorstellungen zur Gestaltung dieses Bereichs noch recht vage. Also nur ein paar grundsätzliche Bemerkungen: Georges Kleiber (1993) trifft die m. E. ganz brauchbare Unterscheidung zwischen einer 'Standardversion' und einer 'erweiterten Version' der Prototypensemantik. So macht er die immer diffuser werdenden Entwicklungen auf diesem Gebeit etwas leichter handhabbar. Die 'Standardversion' beinhaltet u. a. die frühen, grundlegenden Schriften von Frau Rosch und den Leuten aus ihrem Dunstkreis.

3.2.2.2. Die 'erweiterte Version'

Die Autoren des Standardmodells haben sich irgendwann von ihrer ursprünglichen Konzeption so weit entfernt, daß Kleiber die späteren Arbeiten als 'erweiterte Version' der Prototypensemantik bezeichnet. Diese Fassung erhält nur noch zwei der ursprünglich sechs Hauptthesen aufrecht, so daß man sie eigentlich eher die 'abgespeckte Version' nennen müßte.

3.3. Vergleiche, Versuche

Nach dem Pflichtteil hier also die Kür meiner Arbeit.

3.3.1. Die Gültigkeit der Opposition Merkmalssemantik vs. Prototypensemantik

Was jetzt genau die Unterschiede dieser Konzeptionen sind, soll in den folgenden Abschnitten erläutert werden. Hier geht es erstmal darum, daß man aus dieser Opposition nicht schließen kann, daß die Prototypensemantik bei der Bestimmung von Bedeutungen auf das Hantieren mit Merkmalen verzichtet. Insofern ist der Titel der Arbeit natürlich irreführend, da in diesem Sinne sowohl die unter 3.2.1. erwähnten Modelle als auch die Prototypensemantik Merkmalssemantiken sind. Allerdings ist die Rolle der Merkmale jeweils eine andere: In der Merkmalssemantik haben nämlich die Merkmale im Gegensatz zur Prototypensemantik normalerweise den Status von notwendigen und hinreichenden Bedingungen (NHB). Das Problem, warum nicht jeder gepolsterte Stuhl gleich ein Sessel ist, wird also jeweils unterschiedlich behandelt. Kleiber verwendet deshalb für die hier Merkmalssemantik genannten Ansätze den Oberbegriff NHB-Modell.

Da durchaus entlang der Behandlung der semantischen Merkmale eine Grenze zwischen den beiden Konzepten verläuft, handelt es sich in meinem Fall lediglich um ein terminologisches Problem, das ich folgendermaßen zu lösen gedenke: Der Begriff Prototypensemantik hat sich mittlerweile etabliert als Bezeichnung einer wissenschaftlichen Strömung, einer Art Schule, die - allen Unterschieden zwischen einzelnen Autoren zum Trotz - einen bestimmten methodologischen Hintergrund hat und sich explizit von vorangegangenen Arten Semantik zu betreiben abgrenzt. Das entsprechende Label für die Seite der Merkmalssemantik wäre dann wohl vielleicht Strukturalismus. Nur von Strukturalismus zu reden hieße aber einerseits, Ansätze wie den von Frau Wierzbicka auszuklammern, andererseits wurde strukturalistische, aus der Phonologie importierte Methodik in der lexikalischen Semantik immer schon so heterogen rezipiert, daß man kaum von einer methodischen Grundlage sprechen kann, sei es wegen der Aufsplitterung in verschiedene Schulen, sei es, weil Strukturalismus häufig als bloßes Label benutzt wird, um puren Intuitionismus in ein pseudowissenschaftliches Gewand zu kleiden. Stattdessen benutze ich mit Merkmalssemantik einen Terminus, der mit der in den Merkmalsmatrizes gipfelnden Herausarbeitung der für die Analyse zentralen (distinktiven) Merkmale einen allen Arbeiten gemeinsamen wesentlichen Zug herausstellt. Die Prototypensemantik hingegen kommt zwar auch ohne Merkmale nicht aus, versucht das aber weitgehend an den Rand der Untersuchungen zu stellen, um sich möglichst stark abzuheben von den Ansätzen, die ich nun einmal als Merkmalssemantik behandele.

3.3.1.1. Das Selbstverständnis in der Aufeinanderfolge der Traditionen

wird in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen.

3.3.1.2. Abgrenzungen

Desweiteren möchte ich beleuchten, welche Postulate (besonders der Prototypensemantik) für die Ansätze wirklich konstitutiv sind, und welche lediglich dazu dienen, sich von der jeweils anderen Konzeption zu distanzieren.

3.3.2. 'Strukturalismus' vs. 'Kognitivismus'

Hier müssen dann doch der Strukturalismus auf der einen und die modernen kognitivistischen Strömungen auf der anderen Seite als Folie herhalten, um die wesentlichen Unterschiede herauszuarbeiten, die nicht so sehr in den einzelnen Konzeptionen wiederzufinden sind, sondern eher den 'diskursiven' Hintergrund liefern. U. a. sollen Themen wie die Beschränkung auf eine vermeintlich rein 'linguistische' Betrachtungsweise oder die Berücksichtigung auch extralinguistischer Faktoren behandelt werden.

3.3.3. Domänen

Wie schon oben (s. 2.3.) angedeutet, soll untersucht werden, ob es verschiedene Gruppen von Ausdrücken gibt, deren Semantik sich mit dem einen oder dem anderen Ansatz adäquater beschreiben läßt. Die Unterscheidung von Bezeichnungen für natürliche Arten und solcher für Artefakte wird in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen.

3.3.3.1. Anspruch und Leistung

Sowohl Merkmalssemantik als auch Prototypensemantik erheben den Anspruch, den gesamten Wortschatz beschreiben zu können. Werden sie dem gerecht?

3.3.3.2. Für den Methodenpluralismus

Vielleicht kann man ja zumindest dem Ziel größtmöglicher Beschreibungsadäquatheit näherkommen, indem man verschiedenartige Ansätze nebeneinander gelten läßt.

3.3.4. Bedeutungskonzeptionen

Ein wichtiger Punkt ist natürlich die Frage, was im einzelnen überhaupt unter Bedeutung verstanden wird. Die Unterscheidung zwischen fixed und fuzzy meaning ist wohl die prominenteste in diesem Bereich. Welche weiteren Unterschiede existieren hinsichtlich der Auffassung von Bedeutung, wie wichtig sind diese?

3.3.5. Merkmale

Kleiber (1993) stellt fest,

daß diePrototypensemantik – im Gegensatz zu dem, was oft behauptet wird – in keiner Weise das Prinzip der Komponentialität der Wortbedeutung (d.h. die Berechtigung einer Analyse nach semantischen Merkmalen) in Frage stellt. [...] Der Prototypenansatz ist eine Alternative zu den notwendigen und hinreichenden Merkmalen, aber nicht zu den semantischen Merkmalen schlechthin. (S. 47)

Die Rolle der Merkmale ist genauer zu beleuchten. Sind die Merkmale in der Merkmalssemantik wirklich immer streng als NHBen zu verstehen – und in der Prototypensemantik niemals? Wie werden die Merkmale überhaupt ermittelt? Was kann zwischen distinctive features und enzyklopädischem Wissen überhaupt alles ein Merkmal sein? Sind sich die beiden Ansätze nicht vielleicht gerade in diesem Punkt viel ähnlicher, als ihnen lieb ist?

3.3.6. Kategorien

3.3.6.1. Etablierung

Kategorien fallen offenbar vom Himmel. Wir zählen ganz selbstverständlich den Stuhl zu den Sitzmöbeln, wir fragen uns, was ein guter (typischer) Vogel ist; aber warum kommen wir überhaupt auf die Idee, daß es so etwas wie die Kategorie Sitzmöbel oder Vogel geben könnte? Und sind Obst und Gemüse wirklich zwei verschiedene Paar Schuhe?

3.3.6.2. Kategorisierung

Wie werden die Elemente einer Kategorie zugeordnet?

3.3.6.3. Hierarchisierung

3.3.6.3.1. Ebenen

Warum steht da ein Pferd auf dem Flur? Und nicht ein Lipizzaner oder ein Unpaarhufer?

3.3.6.3.2. Relationen

Was sind die Elemente einer Kategorie? Wieder Kategorien? Und wie ist das Verhältnis von übergeordneter zu untergeordneter Kategorie?

3.3.7. Kopräsenz

Mit Kopräsenz meine ich das Nebeneinanderexistieren, das Benachbartsein einzelner Lexeme und die grundlegende Bedeutung dieser Relation für semantische Theorien überhaupt. Was nämlich erstmal nur nach dem strukturalistischen Dogma aussieht, daß sich die Bedeutung eines Elements ausschließlich relational bestimmen läßt, ist gar nicht auf die streng strukturalistischen Ansätze beschränkt:

Die Idee, daß die Bedeutung eines Wortes von dessen Verhältnis zu anderen Ausdrücken abhängt, ist ein entscheidender Punkt, den man – so paradox dies auch auf den ersten Blick erscheinen mag – in der Prototypentheorie wiederfindet. (Kleiber 1993 S. 14)

Desweiteren gibt es diese Idee auch nicht erst seit Pottier in der lexikalischen Semantik. Vielmehr handelt es sich um einen Grundgedanken der Wortfeldtheorie klassischer Ausprägung (s. o.): Ohne die Annahme von Kopräsenz kann man schon mal gar nicht von Feldern sprechen; besonders deutlich kommt dieser Gedanke in dem Essential II)a) zum Ausdruck.

Es wird also auch hier kein Weg an einer kurzen Darstellung der Wortfeldtheorie vorbeigehen. Überhaupt hat diese Konzeption an Aktualität fast nichts eingebüßt: Auf der einen Seite hält die in den Einzelphilologien praktizierte Semantik der Tübinger Schule an einer (bastardisierten) Version des Wortfeldkonzepts fest, andererseits gibt es aus der kognitiven Linguistik Indizien dafür, daß feldähnliche Effekte eine kognitive Relevanz besitzen: Da hat sich z. B. jemand von einer Aphasie nach einem Gehirnunfall erholt und kann wieder die kompliziertesten Dinge sagen – lediglich die Ausdrücke für Obst und Gemüse bereiten größte Schwierigkeiten (vgl. Hart / Berndt / Caramazza 1985)!

3.4. Unterm Strich

3.4.1. Alte Hüte

Hier will ich untersuchen, was sich sonst noch so aus älterern Konzeptionen zur lexikalischen Semantik in Merkmalssemantik und Prototypensemantik wiederfindet. Hat z. B. Gipper in der Vermutung, wir müßten "mit bestimmten 'Grundvorstellungen' rechnen, wie ein Stuhl oder ein Sessel aussehen sollte" (1959 S. 281), bereits die Idee von der Existenz eines Prototyps vorformuliert? Und was ist mit der Gestaltpsychologie?

3.4.2. Was bleibt

3.4.2.1. hinsichtlich Anspruch und Leistung?

Viel Anspruch, wenig Leistung.

3.4.2.2. hinsichtlich der Eigenständigkeit / Andersartigkeit der beiden Entwürfe?

Wenig.

3.4.3. Kritik der Möglichkeiten einer lexikalischen Semantik

Hier will ich die Gemeinsamkeiten beider Konzepte zusammentragen und erörtern, ob sie nicht vielleicht grundlegende Zutaten einer lexikalischen Semantik sind. Ist z. B. das auf der gemeinsamen Grundlage der Kopräsenz fußende Problem, daß man die Bedeutung eines Elements eigentlich schon kennen muß, bevor man es überhaupt zwecks Bedeutungsbestimmung in eine sinnvolle Umgebung setzen kann – also ein zirkuläres Verfahren zur Bedeutungsbestimmung (!) – nur eine gemeinsame Schwäche von Merkmalssemantik und Prototypensemantik, oder ein generelles Problem (vgl. Kleiber 1993 S. 14)?

 

Das Herunterrattern von Überschriften noch nicht geschriebener Kapitel und dunklen Andeutungen hat nun ein Ende. Ich danke allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der AG für die zahlreichen Anregungen, Literaturhinweise und Diskussionsbeiträge und ganz besonders Frau Steube, die mich darüber hinaus durch ihre ermutigenden Worte in dem Entschluß bestärkt hat, mich das nächste halbe Jahr mit lexikalischer Semantik zu beschäftigen.

4. Literaturverzeichnis

Faust, M.

1978: Wortfeldstruktur und Wortverwendung. In: Wirkendes Wort 28 (1978). S. 365 - 401.

Gipper, H.

1959: Sessel oder Stuhl? Ein Beitrag zur Bestimmung von Wortinhalten im Bereich der Sachkultur. In: Sprache. Schlüssel zur Welt. Festschrift für Leo Weisgerber. Hrsg. von Helmut Gipper. Pädagogischer Verlag Schwann, Düsseldorf 1959. S. 271 - 292.

Hart, J. / Berndt, R. S. / Caramazza, A.:

1985: Category-specific naming deficit following cerebral infarction. In: Nature 316 (1985). S. 439 - 440.

Herbermann, C.-P.

1995: Felder und Wörter. In: Panorama der lexikalischen Semantik. Thematische Festschrift aus Anlaß des 60. Geburtstags von Horst Geckeler. Hrsg. von Ulrich Hoinkes. Narr, Tübingen 1995. S. 263 - 291.

Hoinkes, U.

1995: Immer wieder 'Stuhl'... Zur Kontinuität eines Beispiels in der lexikalischen Semantik. In: Panorama der lexikalischen Semantik. Thematische Festschrift aus Anlaß des 60. Geburtstags von Horst Geckeler. Hrsg. von Ulrich Hoinkes. Narr, Tübingen 1995. S. 307 - 328.

Kleiber, G.

1993: Prototypensemantik. Eine Einführung. Übers. von Michael Schreiber. Narr; Tübingen 1993. (Narr Studienbücher).

Labov, W.

1976: Die Bedeutung von Wörtern und ihre Abgrenzbarkeit. In: W. L.: Sprache im sozialen Kontext. Bd. 1. (Monographien Linguistik und Kommunikationswissenschaft 33).

Pottier, B.

1963: Recherches sur l'analyse semantique en linguistique et en traduction mécanique. Nancy 1963.

1964: Entwurf einer modernen Semantik. In: Geckeler, Horst (Hrsg.): Strukturelle Bedeutungslehre. WB, Darmstadt 1978. (Wege der Forschung 426). S. 45 - 89. [dt. Übers. von: Vers une sémantique moderne (1964)]

1965: La définition sémantique dans les dictionnaires. In: Travaux de linguistique et de littérature 3 (1965). S. 33 - 39.